9punkt - Die Debattenrundschau

Nehmt endlich auch mein Leben

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.04.2024. Im Interview mit Zeit online plädiert die Ethikprofessorin Ingrid Robeyns dafür, dass niemand mehr als 1 Million Euro oder höchstens 10 Millionen besitzen sollte. Die NZZ erklärt, warum die polnische Erinnerungspolitik eines Wandels bedarf. In der taz fordern Sylvie Goulard und Daniel Cohn-Bendit ein föderales Europa. Der Rapper Toomaj Salehi wurde im Iran zum Tode verurteilt, berichtet die SZ. Die Welt ist einigermaßen fassungslos, welche Rechte das neue Selbstbestimmungsgesetz Eltern über ihre Kinder gibt. Die FAZ erzählt, warum syrische Flüchtlinge im Libanon nicht integriert werden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.04.2024 finden Sie hier

Ideen

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Buch in der Debatte

 Philipp Daum und Marilena Piesker unterhalten sich für Zeit online mit Ingrid Robeyns, Professorin für Ethik der Institutionen an der Universität Utrecht, über ein "Luxusproblem", nämlich über die Frage, wann Reichtum unmoralisch wird. Sie setzt sich für einen Limitarismus ein, also eine Obergrenze für Reichtum: "So wie wir nicht wollen, dass jemand unterhalb der Armutsgrenze lebt, fordert der Limitarismus, dass niemand mehr als einen bestimmten Betrag besitzen sollte." Die Grenze zwischen erlaubtem Reichtum und unerlaubtem extremem Reichtum zieht sie für Westeuropäer bei einer Million Euro (als ethische Obergrenze) bzw. zehn Millionen Euro (als politische Obergrenze). Letztere ist für sie eine "Wohlstandsobergrenze, die unser politisches System, unsere Demokratie, anstreben sollte. Ab einer bestimmten Menge wird Geld nur noch schädlich. Es schadet der Gesellschaft. Zum Beispiel durch politische Einflussnahme. Mit Geld kann man Lobbyisten bezahlen, politische Kandidatinnen unterstützen oder Medien kaufen.(...) Reichtum schadet auch Superreichen selbst. Manche werden sogar süchtig nach Reichtum."
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Europa

Die EU muss sich reformieren, sonst geht sie zugrunde, warnen in der taz Sylvie Goulard und Daniel Cohn-Bendit, beide ehemalige Europaabgeordnete. Abschaffen wollen sie vor allem das Einstimmigkeitsprinzip. Und sie plädieren für ein föderales Europa: "Angesichts der russischen Bedrohungen und der Gefahr eines US-Isolationismus sollten wir uns reinen Wein einschenken: Es gibt keine politische Macht ohne solide Finanzen (wie es in Frankreich gern geglaubt wird) noch wirtschaftliche Macht, ohne Verantwortung für Sicherheit zu übernehmen (wie es die Deutschen lange Zeit gehofft haben). Und ganz zu schweigen von der Notwendigkeit einer tiefgreifenden Demokratisierung der Entscheidungsprozesse: kein demokratisches Europa ohne die Zustimmung der Bürger, kein Europa ohne ein Wir-Gefühl, das die Abgabe und das Teilen von Souveränität rechtfertigt." Denn genau dies begünstige den Vormarsch von Links- und Rechtsextremen, "getragen von nationalistischen und protektionistischen Versprechen. Ihre genialen Ideen würden uns zum Völkerbund zurückführen, mit dem uns allen bekannten Erfolg. Auch die traditionellen Parteien sind weit davon entfernt, etwas für die europäische Einigung zu riskieren und ziehen sie sich lieber in ihr bequemes Schneckenhaus zurück."

Immer wieder hört man, die Medien sollten der AfD keine Bühne bieten und sie ignorieren. In der SZ findet der ehemalige Bundesverfassungsrichter Peter Müller das eher fatal, er plädiert für die inhaltliche Auseinandersetzung und hat Vertrauen in die Bürger: "Die große Mehrzahl unterscheidet nicht zwischen 'Pass-' und 'Biodeutschen', hat mit einem ethnischen Volksbegriff nichts am Hut und sieht nicht in jedem Migranten einen potenziellen Vergewaltiger. Sie leugnet nicht den menschengemachten Klimawandel und ist gegen die unterwürfige Anbiederung an Putin. Sie will weder einen EU-Austritt noch die Abschaffung von Euro oder Nato. Sie erachtet den Nationalsozialismus nicht als 'Vogelschiss' der deutschen Geschichte und hat kein Problem, Tür an Tür mit Fußballnationalspielern jeder Herkunft zu wohnen. Wer erlebt hat, wie der frühere Geschichtslehrer Höcke im TV-Duell mit Mario Voigt versuchte, Ahnungslosigkeit bei der Verwendung von Nazi-Parolen vorzutäuschen und herumeierte, als er mit seinen Aussagen zu einer Politikerin mit Migrationshintergrund konfrontiert wurde, sollte das paternalistische Vogel-Strauß-Argument vergessen, man dürfe der AfD keine Bühne bieten. Kritik verdienen nicht Debatten mit der AfD, sondern die Unfähigkeit, dabei fundiert zu argumentieren."
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Politik

"'Wir machen euch fertig', rappte er. 'Sucht euch schon mal ein Rattenloch.'" Der Rapper Toomaj Salehi hatte keine Angst, dem iranischen Regime den Stinkefinger zu zeigen. Nachdem er bereits mehrmals im Gefängnis saß, ist er jetzt zum Tode verurteilt worden, berichtet Raphael Geiger in der SZ. "Wahrscheinlich ist es die Angstfreiheit der Rapper, öffentlich auf Instagram und Youtube, von der sich die Mullahs provoziert fühlen. Der erste Teilnehmer der Proteste, den das Regime hinrichten ließ, war Ende 2022 der Rapper Mohsen Shekari. Ein anderer, Saman Yasin, wurde zum Tod verurteilt, später begnadigt, im Gefängnis sitzt er noch immer. Er meldete sich kürzlich mit einem Brief: 'Nehmt endlich auch mein Leben', schrieb er. 'Beendet es.' Zeilen, die davon erzählen, wie es ihm geht - in der Zelle eines Regimes, das foltert und tötet. Allein 2023 sollen in Iran mindestens 834 Menschen hingerichtet worden sein."

Im Libanon wird es für die syrischen Flüchtlinge, die immer mehr werden, ungemütlich, berichtet Christoph Ehrhardt in der FAZ. "Das Schlagwort 'Zeitbombe' fällt immer wieder. Und auch westlichen Diplomaten und Mitarbeitern von Hilfsorganisationen bereitet eines Sorge: die Demographie. Denn inzwischen bekommen schon jene Flüchtlinge Kinder, die einst selbst als Flüchtlingskinder gekommen sind. So wächst die syrische Bevölkerung in Libanon schneller als etwa die christlich-libanesische, was großes Unbehagen hervorruft. Demographische Fragen sind in Libanon hochpolitisch. Posten und Macht werden nach einem Proporzsystem unter Christen, Schiiten, Sunniten und Drusen verteilt. Die Libanesen haben auch den Zuwachs der palästinensischen Flüchtlinge im Kopf, die vor Jahrzehnten ins Land kamen. Anfangs waren es 3000, heute sind es hundertmal so viele. So gilt eine Integration der syrischen Flüchtlinge - anders als in der Türkei - als völlig ausgeschlossen. ... Allerdings leben inzwischen viele syrische Jugendliche im Land, die nur Libanon als ihre Heimat kennen. Wie sollen sie sich fühlen, wenn man ihnen zuruft, sie sollten nach Hause gehen? 'Sie werden nicht ewig hinnehmen, dass auf ihnen herumgetrampelt wird', heißt es von einer besorgten Stimme aus Beiruter Diplomatenkreisen. 'Gott bewahre, was passiert, wenn die Syrer anfangen, sich zu wehren.'"
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Gesellschaft

In der Welt ist Arnd Diringer einigermaßen fassungslos, welche Rechte das neue Selbstbestimmungsgesetz Eltern über ihre Kinder gibt: "Bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres können Eltern jetzt deren offizielles Geschlecht willkürlich festlegen. Wenn beispielsweise ein Paar sechs Monate nach der Geburt ihres Kindes feststellt, dass es lieber einen Andreas als eine Andrea großziehen will, genügt dafür ein Gang zum Standesamt. Eltern sind dabei gesetzlich nicht verpflichtet, das Kindeswohl zu achten. Eine Überprüfung durch ein Gericht oder eine Behörde erfolgt nicht. ... Um das Kind wird, wie es Rechtsanwalt Udo Vetter auf seinem mit dem Grimme Online Award ausgezeichneten Law Blog formuliert hat, dann 'ein Kordon des pflichtgemäßen Schweigens' errichtet. Großeltern, Kindergärtner und andere dürfen das tatsächliche Geschlecht des Kindes grundsätzlich nicht offenbaren. Machen sie es, drohen Bußgelder bis zu 10.000 Euro, Berufsträgern zudem arbeits- bzw. dienstrechtliche Konsequenzen."

Ein Gericht hat eine Verurteilung Harvey Weinsteins wegen Vergewaltigung aus juristischen Gründen aufgehoben. In der FAZ macht sich Claudius Seidl deshalb keine Sorgen: "Dass die alten, bösen Machtverhältnisse restauriert würden, muss trotzdem keiner befürchten. Juristische und moralische Urteile unterscheiden sich manchmal - und das moralische Urteil gegen Männer wie Weinstein wird durch die New Yorker Entscheidung nicht aufgehoben."

Naja, dieses ganze #metoo-Gedöns ging ja auch wirlich zu weit, nicht wahr, meint eine sarkastische Marina Hyde im Guardian: "Als sie die Nachricht hörten, dass Weinsteins Verurteilung am Donnerstag aufgehoben worden war, schaute eine ganze Reihe von Reportern zufällig auf genau die Stelle in dem New Yorker Gerichtssaal, in dem er gesessen hatte, als das ursprüngliche Urteil verkündet worden war. Das lag daran, dass sie ebendort auf die Verhandlung Donald Trumps in seinem Schweigegeldprozess warteten. Wie Sie sich vielleicht erinnern, steckt Donald Trump in so großen Schwierigkeiten, dass er der Kandidat der Republikaner und derzeitige Favorit der Buchmacher für die US-Präsidentschaftswahlen ist, obwohl er zugegebenermaßen hinter Weinstein, was sexuelle Übergriffe angeht, zurückbleibt: Nur 26 Frauen haben Trump beschuldigt. Letztendlich stellt sich aber wohl die Frage: Wenn #MeToo 'zu weit ging', wie hätte dann 'gerade weit genug gehen' ausgesehen?"
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Geschichte

Die Polen waren im 20. Jahrhundert Opfer zweier totalitärer Regime. Doch prägt seit der PiS-Regierung ein "stagnierendes Pathos aus Heroismus und Märtyrertum" die polnischen Erinnerungspolitik, das verhinderte, auch polnische Verbrechen anzusprechen, konstatiert Ulrich M. Schmid in der NZZ. Die neue Regierung unter Donald Tusk versucht das zu ändern, wird aber zur Zeit noch von Präsident Andrzej Duda behindert, wogegen sich wiederum eine Reihe polnischer Historiker mit einem 'Brandbrief' richtete: "Sie wandten sich gegen das 'enge ethnische Verständnis des katholischen polnischen Volkes', das der Arbeit des IPN [das staatliche Institut für nationales Gedenken] zugrunde liege. Die Liste der Sündenfälle, die sie dem IPN vorwerfen, ist lang. Ein Mitarbeiter des IPN in Breslau (Wroclaw) war früher Mitglied einer rechtsradikalen Organisation. Auf Fotos war dokumentiert, wie er den römischen Gruß ausführte. Als Historiker präsentierte er die sogenannte Heiligkreuz-Brigade als patriotische Organisation, obwohl sie mit den Nazis kollaborierte und die polnische Heimatarmee bekämpfte. Zwei weitere Mitarbeiter des IPN behaupteten, die polnischen Juden im Jahr 1939 seien nicht Opfer, sondern Täter gewesen und hätten in den Ghettos bis 1941 deutlich besser gelebt als die polnische Bevölkerung. Ein anderer Mitarbeiter trat mit Vorträgen zum Thema 'Die bolschewistischen Wurzeln der Gender-Ideologie' auf."
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Stichwörter: Polen, Erinnerungspolitik